Alle heutigen grünen Pflanzen gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück.

Zeitreise durch die Evolution

Genetiker rekonstruieren, wie sich die Vielfalt der Landpflanzen entwickelt hat
Alle heutigen grünen Pflanzen gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Es ist das Ergebnis eines Mammutprojekts: Die »One Thousand Plant Transcriptome Initiative« hat über neun Jahre sämtliche aktiven Gene von mehr als 1.000 Pflanzen mit bisher unerreichter Genauigkeit analysiert. Aus dem gigantischen Datensatz lassen sich nun entscheidende Entwicklungsschritte der Pflanzen in ihrer mehr als eine Milliarde Jahre andauernden Evolution ablesen.

Wie ist es den ersten Landpflanzen gelungen, ihren ursprünglichen Lebensraum - das Wasser - zu verlassen und an Land, der Schwerkraft der Erde trotzend, immer weiter in die Höhe zu wachsen, und schließlich Blüten, Samen und Früchte zu produzieren? Um solche Fragen zu beantworten, haben rund 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von mehr als 130 Forschungseinrichtungen aus aller Welt sämtliche aktiven Gene - das Transkriptom - von mehr als 1 000 Grünalgen, Moosen, Bärlappgewächsen, Farnen, Nacktsamern und Blütenpflanzen mittels enormer Rechentechnik analysiert. Die Gene und Genfamilien haben sie in Stammbäumen angeordnet, die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb des Pflanzenreiches entschlüsselt und ihre Ergebnisse im Fachmagazin »Nature« publiziert. Unter den Autoren ist auch ein Team der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Eine wichtige Rolle bei der Entstehung der pflanzlichen Vielfalt und der Entwicklung neuer Eigenschaften hat die Vervielfältigung von genetischem Material gespielt. Die Jenaer Genetiker Prof. Dr. Günter Theißen und Dr. Lydia Gramzow haben in der Studie untersucht, wann bestimmte Gene, die für die Blütenentwicklung von Pflanzen verantwortlich sind, entstanden sind und sich im Laufe der Evolution vervielfältigt haben. Diese sogenannten MADS-Box-Gene kommen in allen Pflanzenfamilien vor, allerdings in unterschiedlicher Häufigkeit. »Die ursprünglichsten Vorfahren der heutigen Pflanzen waren im Wasser lebende Grünalgen«, erläutert Prof. Theißen. »Diese hatten weder Blüten noch Samen und auch nur ganz wenige MADS-Box-Gene.« Im Laufe der Evolution sind aus diesen Urahnen die heutigen Landpflanzen hervorgegangen, darunter Moose, Farne und Samenpflanzen. Mit der wachsenden Vielfalt an Pflanzenarten sind auch Zahl und Vielfalt der MADS-Box-Gene gewachsen. Da MADS-Box-Gene wichtige Entwicklungsprozesse von Pflanzen steuern, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Anzahl und Diversität dieser Gene und der Komplexität und Vielfalt pflanzlicher Strukturen.

Expansive Genvermehrung

Dass die heute lebenden Pflanzen über unterschiedlich viele MADS-Box-Gene in ihrem Erbgut verfügen, war bereits länger bekannt. Während einfache Moose oder Bärlappgewächse im Schnitt weniger als zwanzig Kopien aufweisen, sind im Genom höher entwickelter Samenpflanzen 50 bis 300 verschiedene MADS-Box-Gene zu finden. »Man könnte daraus schließen, dass die Genvervielfältigung einfach eine Folge der Höherentwicklung der Pflanzen ist«, sagt Dr. Lydia Gramzow. Die Wissenschaftlerin hat im Rahmen der aktuellen Studie fast 30 000 Sequenzen untersucht und konnte diese Annahme widerlegen. »Wir haben herausgefunden, dass die Ausstattung mit MADS-Box-Genen das Ergebnis unabhängiger Genvervielfältigungen ist«, sagt Gramzow. Wie der von den Jenaer Forschern erstellte Stammbaum zeigt, haben sich die MADS-Box-Gene etwa in Farnen und Samenpflanzen jeweils separat vervielfältigt und weiterentwickelt. »Beide Pflanzengruppen gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück«, erläutert Prof. Theißen. Aus diesem haben sich in einer Linie die heutigen Farne und in einer anderen Linie die Samenpflanzen entwickelt. »In beiden Linien haben sich MADS-Box-Gene unabhängig und unterschiedlich oft verdoppelt. Wir vermuten, dass es vier verschiedene Urgene gab, die vor etwa 380 Millionen Jahren im letzten gemeinsamen Vorfahren der heute lebenden Farne und Samenpflanzen vorhanden waren

 

Dr. Lydia Gramzow und Prof. Dr. Günter Theißen vom Matthias-Schleiden-Institut der Universität Jena.
Dr. Lydia Gramzow und Prof. Dr. Günter Theißen vom Matthias-Schleiden-Institut der Universität Jena.
Foto: Jan-Peter Kasper (Universität Jena)

Aus ihren Ergebnissen schlussfolgern die Genetiker, dass ähnliche Prozesse auch in anderen Genfamilien passiert sein könnten. »Wir lernen daraus zum einen, dass die Evolution nicht unbedingt eindimensional linear verläuft, sondern dass gleiche Entwicklungsstufen manchmal auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden«, fasst Prof. Theißen zusammen.

Weniger ist manchmal mehr

Zum anderen zeige die Studie auch, dass Evolution nicht zwangsläufig komplexere Lebensformen hervorbringt. »Manchmal ist offenbar Reduktion ein evolutionärer Vorteil - ein Phänomen, dass z. B. von vielen Parasiten bereits gut bekannt ist«, sagt Theißen. So belegten die nun veröffentlichten genetischen Daten, dass alle heute lebenden Moose näher miteinander verwandt sind als mit jeder anderen Pflanzengruppe - das war bislang eine der umstrittensten offenen Fragen der Evolution der Landpflanzen. Die im Vergleich zu den Laubmoo­sen sehr ursprünglich er­schei­nenden Lebermoose verdanken ihr Aussehen vermutlich nachträglichen Vereinfachungen ihrer Gestalt.

Text: Ute Schönfelder

Information

Original-Publikation: One thousand plant transcriptomes and the phylogenomics of green plants. Nature (2019), DOI: 10.1038/s41586-019-1693-2Externer Link