Die russische Germanistin und Historikerin Prof. Dr. Irina Scherbakowa, spricht während einer Pressekonferenz anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises.

»Nicht mehr wegschauen!«

Im Interview erklärt Irina Scherbakowa, was in der deutschen Politik im Umgang mit Russland falsch gelaufen ist und wie es Putin bis heute gelingt, die Bevölkerung im eigenen Land ruhig zu halten
Die russische Germanistin und Historikerin Prof. Dr. Irina Scherbakowa, spricht während einer Pressekonferenz anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Interview: Ute Schönfelder

Frau Scherbakowa, Sie gehörten seit langem zu den öffentlichen Stimmen, die vor der antidemokratischen Entwicklung in Russland und dem Krieg in der Ukraine gewarnt haben. Trotzdem kam dieser für viele Menschen in Deutschland überraschend. Warum wurde die Gefahr nicht gesehen?

Ich denke, viele wollten sie einfach nicht sehen. Wobei man schon anerkennen muss, dass wir als unabhängige NGO durchaus gehört wurden: Es gab Besuche von Bundestagsabgeordneten in Russland, die sich über die Situation informiert haben. Memorial arbeitete viele Jahre eng mit Partnern in Deutschland, wie der Böll- und der Naumann-Stiftung zusammen. Also es gab durchaus Menschen, die die Gefahr wahrgenommen haben.

Aber es gab auch eine andere Richtung, die politisch wesentlich dominanter war: Man wollte einfach aufgrund der historischen Erfahrung keinen Konflikt mit Russland. Das gilt vor allem für Ostdeutschland. Hier sitzen traumatische Besatzungserfahrungen noch immer tief, die lange verschwiegen und verdrängt wurden. Viele Menschen haben einfach Angst vor dem Krieg und gleichzeitig gab und gibt es Schuldgefühle gegenüber den Russen. Das kann man der Bevölkerung nicht zum Vorwurf machen.

Trotzdem sind politische Fehler gemacht worden.

Ja, eindeutig. Da wurde viel Selbstberuhigung betrieben. Zum einen gab es die traditionelle Ostpolitik, die man nicht einfach aufgeben und die guten Beziehungen zu Russland gefährden wollte. Zum anderen, und das war für uns besonders schmerzhaft, wurde immer unterstellt, Russland könne womöglich gar nicht zur Demokratie fähig sein und hat damit vieles entschuldigt.

Der schlimmste Fehler in den Beziehungen zu Russland aber war das Fokussieren auf wirtschaftliche Interessen. Das war einfach sehr kurzsichtig. Die wachsende Abhängigkeit des Westens und insbesondere Deutschlands von russischen Gas- und Ölimporten hat es Putin ermöglicht, die Beziehungen zu zersetzen. Von deutscher Seite wurde immer versucht, die russische Innenpolitik auszuklammern und von der Außenpolitik zu trennen. Davor haben wir immer gewarnt, aber unsere Warnungen wurden nicht wahrgenommen.

Als Russland 2014 die Krim annektierte und in der Ostukraine Krieg führte, war eindeutig klar, wohin die Reise gehen wird. Was der Westen und Deutschland seither gemacht haben, war in meinen Augen absolut ungenügend. Seitdem wurde sehr viel Zeit verloren. 

Was ist jetzt zu tun?

Hinschauen, nicht mehr wegschauen. Und die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Jetzt geht es einfach darum, die Ukraine zu unterstützen. Das nützt letztlich auch dem künftigen Russland, das ich vielleicht nicht mehr erleben werde. Ich glaube, dass sich Russland verändern wird. Aber das wird lange dauern. Doch wenn es Putin jetzt gelingt, den Krieg zu einem Dauerkonflikt auszudehnen, wird er immer einen Hebel in der Hand haben, den Westen zu erpressen. Dann gibt es auch für Russland lange Zeit keine Chance auf eine bessere Zukunft. 

Wie ist denn die Haltung in Russland jetzt? Warum begehren die Menschen nicht gegen Putin auf?

Leider haben die meisten Leute in den langen Jahren der Putinschen Diktatur gelernt, sich anzupassen. Es gab und gibt einige wenige, die kritisch sind, auch diesem Krieg gegenüber. Aber das sind einfach nicht genug, um den Krieg zu stoppen. Außerdem hat man zugelassen, dass Putin einen massiven Gewaltapparat aufbauen konnte. Dessen Ausmaß ist nicht mit den finstersten Breschnew-Zeiten zu vergleichen. Heute werden in Russland wieder Menschen gefoltert! So etwas hatten wir seit der Stalin-Zeit nicht mehr. Das versetzt den Großteil der Menschen in Angst und sie resignieren, weil sie glauben, dass sie diesem Staat nichts entgegenzusetzen haben.

Hinzu kommt noch die massive Propaganda gegen den Westen, gegen die Ukraine, gegen die Demokratie. Diese Propaganda gibt den Menschen die Möglichkeit, das Vorgehen des Staates zu rechtfertigen und »beruhigt« wegzuschauen. Und das ist doppelt schlimm. 

Darf man mit Putin irgendwann über ein Ende des Krieges verhandeln?

Mit Putin nicht. Und auch nicht verhandeln. Natürlich ist klar, dass jeder Krieg mit irgendeinem Vertrag endet. Das wird auch bei diesem Krieg der Fall sein. Aber ich denke nicht, dass Putin dabei irgendeine Rolle spielen könnte. Denn es braucht ein Mindestmaß an Zutrauen an die andere Seite, dass der Vertrag eingehalten wird. Und das hat Putin verspielt. Hoffentlich hat das jetzt auch der Westen verstanden. Und in meinen Augen ist ganz klar, dass die Ukraine die Bedingungen für jeglichen Vertrag stellen muss. Nicht Russland und auch nicht der Westen.